Der große Lebkuchen-Überfall 

Lebkuchen satt - das muss nicht sein, wenn man es genießen möchte. FOTOS: STOCK.ADOBE.COM

Tradition in unserer Familie war es früher, vor 40, 50 Jahren, als Weihnachten immer weiß oder wenigstens kalt war, dass alle Verwandten den ersten Feiertag gemeinsam verbrachten. Gegen Mittag trudelten die „Buckligen“ (von: Bucklige Verwandte) - wie meine Schwester und ich sie heimlich nannten - also langsam bei uns ein. Großonkel, Paten, Nenntanten, Cousinen der Oma und was nicht sonst noch. Weitgehend normale Leute. Fast alle. Zugegen waren allerdings auch und alljährlich zwei - aus heutiger Sicht - etwas spezielle Gäste: Tante Marlies und Onkel Eugen. Die beiden waren gute Menschen, dennoch bescherten sie uns den jährlichen großen Lebkuchen-Überfall.

Dieses Ehepaar in den besten Jahren verfügte über eine erstaunliche Anzahl von Besonderheiten und Verhaltensauffälligkeiten, nennen wir sie liebevoll Marotten. Der Onkel war in Österreich gebürtig und sein Dialekt von uns Norddeutschen kaum zu verstehen. Zudem ließ seine etwas polternde, laute Art der Geselligkeit uns Kinder fremdeln - obwohl wir ihn schon lange kannten. „Servus miteinand, habts a Freid ghabt unterm Krischtbaum?", dröhnte es ins Kinderzimmer aus dem rosigen Almöhi-Gesicht und meine Schwester und ich verstanden kein Wort und reagierten überaus einsilbig.

Eugen zeigte stolz seine alpenländische Herkunft, mit einem trachtartigen Outfit aus Janker mit Hirschhornknöpfen und Kniebundhose, das in einem ehemaligen Fischerort an der Ostsee gelinde gesagt auffiel. Ich bin überzeugt davon, dass das Wort „Fremdschämen" seinen wahren Ursprung auf einem unserer Weihnachtsspaziergänge durch die Stadt mit Onkel Eugen hat. Zudem war alles an ihnen – besonders in unseren Kinderaugen - irgendwie groß, hatte eine stattliche Dimension. Der Onkel und die Tante an sich, physiognomisch gesehen, in Höhe wie Breite, ihr Auto, ein beigefarbener Mercedes Kombi Diesel, ihre Kleidung, der grotesk riesenhafete Pelzmantel der Tante und die voluminösen Fellmützen. Aber auch ihr alljährliches Geschenk. Es war eine Truhe, ca. 1,50 m mal 1,20 m groß, die sie gut gelaunt, aber vor Anstrengung japsend die Treppe zu unserer Mietwohnung hochtrugen, prall gefüllt mit Lebkuchen der allerfeinsten Art, die sie von ihrer jährlichen Frankenreise direkt von Nürnberg nach Norddeutschland exportiert hatten. Es waren Berge. Lawinen. Unmengen.

"Wir brachten es einfach nicht übers Herz, ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen."

Heute frage ich mich, was ihr Ziel war. Versuchten sie, uns heimlich auch so "groß" werden zu lassen, wie sie selbst es waren? Oder waren ihnen die Dimensionen vielleicht selbst gar nicht bewusst? Wir jedenfalls brachten es einfach nicht übers Herz, ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, dass nämlich dieses biblische Ausmaß an Lebkuchen viel zu viel war und wir uns gar nicht so sehr freuten, wie sie es immer dachten. Wir Kinder murmelten unser zwanghaftes „Danke“ durch die verkniffenen Lippen und wurden dafür von den Schenkenden sogleich ins Herz geschlossen.

Autor Matthias Schlicht ist stellvertretender Leiter der Wochenzeitungen- und Sonderthemenredaktion. FOTO: SH:Z
Autor Matthias Schlicht ist stellvertretender Leiter der Wochenzeitungen- und Sonderthemenredaktion. FOTO: SH:Z

Wie dem auch sei, Marlies und Eugen luden die gigantische Truhe ab, feierten, aßen und tranken nach Herzenslust und fuhren abends wieder ihrer Wege. Wir blieben zurück und sitzen auf zirca einer Tonne Traditionsgebäck aller Art und entwickelten allmählich geradezu eine Abneigung gegen alles, was auch nur im Entferntesten danach roch oder schmeckte. Unser Appetit war nach jahrelanger Überfütterung gestillt. Die Wagenladung Pfeffernüsse, Printen und Honigkuchen bedeckte aber noch immer die Hälfte des Wohnzimmerbodens und erschwerte die freie Bewegung. Wohin nur mit dem Überfluss? Die Lösung: Teilen.

Am zweiten Weihnachtstag machten wir Kleinen uns auf zum traditionellen Klinkenputzen und verteilten die Lebkuchen-Packungen und einen Fröhliche-Weihnachten-Gruß großzügig unter den Nachbarn - vorzugsweiseunter den alleinstehenden, vielleicht verwitweten älteren Damen und Herren oder Rentnerehepaaren, von denen wir wussten, dass ihre Familie es nicht schaffen würde, sie zum Fest zu besuchen. So kehrten wir den jährlichen Lebkuchen-Überfall doch noch ins Gute. Heute würde man vielleicht sagen, wir lösten die Sache mit „Socialising“ und sonnten uns – ein wenig zu Unrecht - im Lichte des guten Rufes einer ,,netten Familie", die Jahr für Jahr an die Nachbarn dachte und ihnen sogar eine Kleinigkeit vorbeibrachte.

Zum Weihnachtsgefühl gehören für mich heute genau diese kleinen Erinnerungen an früher, die Zeit vor vierzig, fünfzig Jahren, in der Weihnachten immer weiß oder wenigstens kalt war. Die stärksten Erinnerungen sind wohl die an die Menschen, die Weihnachten ausmachten, die Eltern, Oma und Opa und die Geschwister - aber auch an die etwas entfernteren Verwandten, wie Marlies und Eugen - Gott hab sie selig!